Der Name Favela kommt ursprünglich von dem Namen eines Hanges im Nordosten des Landes, dem Morro da Favela. Eine typische Pflanze in dieser Gegend hat die Bezeichnung Favela. Die erste brasilianische Favela wurde etwa 1897 in Rio de Janeiro gegründet. Damals besetzten Überlebende des Krieges gegen Paraguay einen Hügel, der keinen Immbilienwert hatte. Auf diesem Hügel bauten die Menschen ihre Baracken, da sie anderswo keine Unterkunft fanden. Favelas sind vorwiegend ein Produkt der Land Stadt- Migration und der zum größten Teil daraus resultierenden Armut. Viele Arbeiter suchen die Nähe zu ihren Arbeitsplätzen und siedeln sich meistens auf öffentlichen Gelände, das aufgrund von Berghängen, Feuchtgebieten, Müllhalde etc. für normale Bebauung nicht geeignet ist. Bei diesen ungünstigen Lagen handelt es sich um erosionsgefährdete Hügel und Steilhänge und um die von Überschwemmung bedrohten Flussniederungen. Im Sommer rutschen bei den Regenfällen nicht selten ganze Hangabschnitte ins Tal und reißen besonders die instabilen Hütten mit. Oft treten auch die Gewässer über die Ufer und überschwemmen die Favelas mit schädlichen Abwässern aus Industrie und aus dem Armenhaushalten.
Favela ist heute ein Sammelbegriff für den sozialen, politischen und kulturellen Kontext der ärmeren Bevölkerung, bzw. der Unterschicht zugehörenden Bevölkerung. Damit ein Gebiet als Favela bezeichnet werden kann, muss es bestimmte Kriterien ausweisen. Es handelt sich um eine Gruppierung von mindestens 50 Gebäudeeinheiten, deren Bausubstanz rustikaler Art ist. Die meisten Hütten bestehen aus Blech- und Zinkplatten, teil auch nur aus Holzbrettern, wobei dieser Trend, aufgrund der erhöhten Holzpreise in den letzten zehn Jahren, rückläufig ist. Viele Gebäude und Wege sind weder beschildert noch nummeriert. Somit kann man also von einem nicht urbanisierten Gebiet sprechen. Die Infrastruktur ist erheblich bis sogar ganz eingeschränkt. Es mangelt an Kanalisation, Stromversorgung, medizinischer Versorgung, Bildungseinrichtungen und Telefonanschlüssen. Nicht alle Haushalte fügen über fließend sauberes Wasser und nur etwas über die Hälfte der Hütten verfügen über eine Toilette.
Die Favelas charakterisieren somit einmal den Zustand
eines Gebietes und weisen auch ebenfalls auf ein Rechtsverhältnis hin. Auch
wenn sich die Favelas in ihrem baulichen Zustand und ihren
Entstehungsgeschichte unterscheiden, haben sie jedoch gemeinsam, dass sich die
Bewohner auf für andere uninteressantem Gelände widerrechtlich ansiedeln. Da
die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind und auch nie geklärt waren, haben die
Favelabewohner diese Gebiete schon immer ohne Siedlungsgenehmigung in Beschlag
genommen. In diesen Fällen kann man ebenfalls von einer permanenten
Landbesetzung sprechen. Dieser Status schafft eine sehr unsichere rechtliche
Lage für die Bewohner. Solange die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind, kann
die Regierung Räumungen veranlassen (Vergl. Karsch 1997:
74ff).82 % der
Favelabewohner sind ohne legalen Besitz und sind somit potentiell von
Vertreibung bedroht. Viele Favelabewohner kämpfen allerdings für die
Anerkennung und Verbesserung ihrer Favelas, da sie keine alternative
Wohnmöglichkeit haben. In einigen Fällen werden den Favelabewohner das von
ihnen besetzt Gebiet von der Regierung überlassen und geben damit den Status
der illegalen Landbesetzung ab. Doch dies geschieht nur, wenn die Bewohner
mindestens zehn Jahre das besetzte Stück Land bewohnen. Die Favelabewohnergehören im öffentlichen Ansehen Brasiliens
an
den sozialen Rand der Gesellschaft. In den Favelas wohnt ein großer Bevölkerungsanteil,
der in der Industrie, im informellen Sektor und im öffentlichen Dienst
arbeitet. Nach den Statistiken des städtischen Planungsinstitut von Rio de
Janeiro wohnten 1990 1,5 Mio. Menschen, ca. 25 % der städtischen
Gesamtbevölkerung, in ca. 520 Favelas. Allerdings sind diese Daten nicht
hundertprozentig sicher, da die Bandbreite der Definition des Begriffs Favela
sehr groß ist und sich die Statistiken dadurch stark unterscheiden (Vergl. Florisbela Dos Santos 2001: 58). Die folgenden Tabelle gibt einen
kurzen
Überblick über die Entwicklung der Favelas in den letzten Jahrzehnten.
|
1950 |
1960 |
1970 |
1980 |
1997 |
Zahl der Favelas |
58 (a) |
147 (b) |
162 (c) |
376 (d) 309 (e) |
608 (g) |
Zahl der Favelabewohner |
169.300 (f) |
337.000 (f) |
565.129 (b) |
722.424 (d) 1.470.818(e) |
882.667 (g) 1.844.340(g)* |
Einwohner des Munizips R. J. |
237.745 (a) |
3.247.710 (b) |
4.251.918 (c) |
5.088.02 (c) |
5.533.011 |
Anteil der Favela- bewohner an der Gesamtbevölker- ung von R. J. |
7,1 |
10,4 |
13,3 |
14,2 (34,2)*) |
16,0 (33,3)*) |
Quellen: (a) IBGE: Censo Demográfico de 1950 (nach FEEMA, 1980
/ Wehenpohl, 1987)
(b)
IBGE: Censo Demográfico de 1960 (nach FEEM, 1980 /Wehenpohl, 1987)
(c)
IBGE: Sinopse Preleminar de Censo Demográfico de Guanabara, 1970 (nach Valladares,
1978 / FEEM, 1980 / Wehenpohl, 1987)
(d)
IBGE: Sinopse Preleminar
de Censo Demográfico de Rio de Janeiro, 1980 (nach IPLANRIO, 1984 / Wehenpohl,
1987)
(e)
Secretaria Municipal de Planejamento e Coordenacáo Geral:
Aglomeracáo de Baixa Renda (nach FEEM, 1980 / Wehenpohl, 1987)
(f)
CEDUG Plano Dioxiadis de Urbanizacáo
(nach FEEM, 1980 / Wehenpohl, 1987)
(g)
Rio 2004, Favelas urbaniuadas, integradas à cidade (Preifeitura de Rio de Janeiro,
1997)
* Der Verband der Bewohnervereine der Favelas in Rio
de Janeiro sowie selbst die
Stadtverwaltung gehen inoffiziell davon aus, dass etwa 1/3 der Bewohner
Rios in Favelas wohnen.
(Florisbela
Dos Santos 2001: 59)
Die im oberen Abschnitt schon erwähnte Migration der
armen Bauern aus dem ländlichen Nordosten in den urbanen Südosten erklärt nicht
nur den starken Anstieg der Gesamtbevölkerung im Munizip Rio de Janeiro,
sondern auch den Anstieg der Favelabewohner.
Es stellt sich nun die Frage, warum gerade diese
Favela als Beispiel für diese Arbeit ausgewählt wurde? Die Antwort darauf
lautet, dass einmal die Bevölkerung in der Favela Maré sehr heterogen ist, das
heißt sie unterscheidet sich in vielen Punkten. Zum einen gibt es gelernte
Arbeiter mit kleinen Läden und Handwerksbetrieben, die in ihren selbstgebauten
Steinhäusern leben, zum anderen gibt es unqualifizierte Arbeiter und
Gelegenheitsarbeiter und somit auch eine hohe Arbeitslosigkeit unter ihnen, die
in Baracken leben mit einer schlechten baulichen Lage. Ein weiterer Punkt,
warum gerade diese Favela ausgewählt wurde, ist der unterschiedliche
Organisations- und Mobilisierungsgrad in den verschiedenen Teilen des
Favelakomplexes. All diese Favelas haben sich entwickelt und weisen heute nicht
mehr durchgängig den Charakter einer Elendssiedlung auf. Sie haben vielmehr
eine sehr differenzierte Siedlungs- und Sozialstruktur. Zum Beispiel sind die
Bewohner in der Favela Nova Holanda und in der Favela Timbáu sehr gut
organisiert. Diese Favelas haben ein sehr solide wirkendes Gesamtbild. Alle
Strassen und Wege sind asphaltiert, die Häuser sind an die Kanalisation
angeschlossen und befinden sich in einem guten baulichen Zustand. Während die
Favela Villa do Joao und die Favela Roquete Pinto die ärmeren Teile des
Favelakomplexes darstellen und weniger gut organisiert sind. Die Wege in diesen
Teilen von Maré sind nicht asphaltiert, so dass zu manchen Häusern nur ein
Trampelpfad führt. Die Bewohner leben teilweise in nur einfachen Bretterhütten,
die aus Bohlen und Balken zusammgezimmert wurden. In wenigen Favelas gibt es
auch keine Kanalisation, so dass sich der gesamte Abfall aller Haushalte in
offenen Gewässern an den Straßenrändern sammelt (Vergl. Karsch 1997: 78ff).
Die in den Favelas vorhandene Nachfrage ließ in verschiedenen Teilen viele kleine Geschäfte entstehen, die sich Anfangs nur auf Baumaterial beschränkt, dann das Angebot aber weiter auf Lebensmittel ausgeweitet haben.
Die Favela Maré ist ein Favelakomplex, das heißt sie
besteht aus insgesamt acht Favelas (Roquete Pinto, Palfitas, Parque Uniao,
Rubens Vaz, Nova Holanda, Parque Mare, Baixa de Sapateiro und Timbáu, siehe
Abbildung 1) und vier Armensiedlungen, die durch Umsiedlungsprojekten
entstanden sind. Der Favelakomplex ist im Westen von der wichtigsten Verkehrsader
der Avenida Brasil und im Osten von der Autobahn Linha Vermelha, die direkt zum
Flughafen führt, begrenzt. Nach Schätzungen der städtischen Verwaltung leben in
den zwölf Favelas ca. 196.000 Menschen in ungefähr 1.350 Häusern (Vergl. Karsch 1997: 81).
Mit der Eröffnung der Avenida Brasil im Jahre 1946 begann die Besetzung der peripheren städtischen Zonen und somit auch die Ausbreitung der Favela. Durch den Bau der wichtigsten Verkehrsanbindung in die Nordzone von Rio de Janeiro ging die industrielle Erschließung und ein verstärktes Angebot an Arbeitsplätzen einher. Das Gebiet, wo sich heute die Favela Parque Maré, Nova Holanda und Baixa de Sapateiro befindet, war früher ein Sumpfgebiet. Um auf diesem Gebiet Häuser bauen zu können, trieben die Bewohner Pfähle in den Boden und errichteten darauf ihre Hütten. Diese Pfahlbauten bestanden meist nur aus einem Raum und wurden aus verschiedenen Holzbrettern und geklautem Material zusammengebaut. Mit der Zeit begannen die Bewohner das Gebiet aufzuschütten, um dann auf dem festen Boden bessere Häuser bauen zu können. Seit den 50er Jahren werden immer wieder Beseitigungsversuche gestartet. Doch den Bewohnern gelang es gegen diese Vertreibungspolitik öffentlichkeitswirksamen Widerstand zu leisten. Die Organisation der Bewohner von Maré war immer wieder eine entscheidende Voraussetzung für ein erfolgreiches Handel gegen die Vertreibungspolitik von verschiedenen Regierungen. Es wurden verschiedene Vereinigungen der Favelas gegründet, die sich unter anderem für die Urbanisierung von Favelas und für den Bau von gemauerten Häusern einsetzte. Bis 1963 wurde der Bau von Häusern aus Ziegeln in den Favelas rechtlich verboten. Die Organisation der Favelas wurde immer besser und die Bewohner haben in den 1950er, 60er und 70er Jahren sehr viel selbst zur Urbanisation der Favelas beigetragen, zum Beispiel durch die Aufschüttung des Sumpfgebietes. Die Favelarisierung nahm mit der Modernisierung und die damit zusammenhängende Land Stadt Migration in den 1960er und 70er Jahren verstärkt zu (Vergl. Karsch 1993: 58f.).
Erst 1979 kehrte die Favela de Maré in die Schlagzeilen zurück und diesmal im Zusammenhang mit dem Projeto Rio, eine Initiative der Bundesregierung. Im Rahmen des Wohnprogrammes PROMORAR sollte die Favela Maré umgesiedelt werden. Dieses Gebiet sollte neu planiert und urbanisiert und zur Ansiedlung von Industrie und Wohnsiedlung erschlossen werden. Weitere Projektziele waren noch eine zusätzliche Landgewinnung durch die Umsiedlung von Maré und die Erweiterung der beiden Schnellstraßen Linha Vermelha und Avenida Brasil. Die Favelagemeinde reagierte auf dieses Projekt mit der Gründung einer Kommission zur Verteidigung des Favelakomplexes Maré, namens CODEFAM. Die Aufgabe diese Kommission war zwischen der Gemeinde und der öffentlichen Gewalt zu vermitteln und Kontakt zu verschiedenen Intellektuellen von Universitäten, Fachinstitutionen etc. herzustellen. Diese Personen sollten das von der Bundesregierung gesteuert Projekt beurteilen und das Meinungsbild der Favelabewohner in der Öffentlichkeit zurechtzurücken. Nach vielen Verhandlungen wurden die Projekte gestrichen und die Umsiedlung der Favela Maré nicht stattgegeben.
Die Bewohner in Maré sind hauptsächlich ärmere
Arbeiterfamilien. 23 % der dort lebenden Bevölkerung ist in Maré geboren, 22 %
kommen aus anderen Favelas, 32 % aus einer anderen Stadt und die restlichen 23
% der Bevölkerung sind aus den ländlichen Regionen in diese Favela gezogen. Die
ursprüngliche Motivation der Land - Stadt Migration war die Hoffnung auf eine
gesellschaftliche Besserstellung. Doch diese Erwartungen erfüllten sich für
viele Familien nicht. Statt dessen mussten sich die Familien an eine neue
Situation anpassen, was für sie bedeutete, dass sie ihr Sozialgefüge in der
Familie verändern mussten, dass heißt, der Bedeutungszuwachs der Frauen und
Kinder, vor allem in ökonomischer Sicher, ist stark anstieg.
Trotz vieler Bemühungen
liegen 76,4 % der Einwohner mit ihrem Einkommen unter der Armutsgrenze. In der
Favela Maré gibt es gewisse Differenzierungen aufgrund der Einkommenssituation,
so leben beispielsweise die Ärmsten der Armen in der Villa do Joao. Die
beengtesten Wohnverhältnisse sind ebenfalls in diesem Teil des Favelakomplexes
anzutreffen. Die durchschnittliche Haushaltsgröße dort liegt bei etwa 4,9
Personen auf 23 46 m², wobei im Durchschnitt 1,24 Familien pro Haushalt leben
(Vergl. Karsch 1997: 85).