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Ein Beitrag zur Global Education Week - “Together for a World without Poverty”
4 Segmentäre Strukturen


4.1 Die strukturellen Folgen des Exklusionsprozesses

Besitzt eine Person keinen Ausweis, hat sie keinen Zugang zum Rechts- und Bildungssystem und somit keine Chance auf eine höherqualifizierte Arbeitsstelle (und ist schlimmstenfalls für den Rest der Gesellschaft kaum existent). Verliert eine Person ihren Job und somit den Zugang zum Wirtschaftssystem, kann sich dies auf den Status als Krankenversicherten und den Wohnsitz auswirken. System und Umwelt verändern sich nicht simultan. Verändert sich einer der Faktoren, so muss eine Ausdifferenzierung folgen.

Ist der Spezialisierungsgrad der ausdifferenzierten Systeme extrem hoch, so hat dies zur Folge, dass sich Exklusionsbereiche bilden, die wiederum wenig ausdifferenziert sind und segmentäre Strukturen aufweisen, wie dies bei der Sozialstruktur der Marginalsiedlungen der Fall ist. Zumindest kann dies geschehen, wenn die schon erwähnten sozialen Absicherungen fehlen. Die strukturelle Zusammensetzung der Favelas und der asiatischen Elendsviertel ist bestimmt von Netzwerken in Form von z. B. Familien- oder Bandenzugehörigkeit, nicht wie außerhalb ihrer kommunizierten Grenzen von Funktionssystemen. Wer Zugang zu einem Einkommen hat, hat auch Macht und Einfluss in anderen Lebensbereichen, sei es der vereinfachte Zugang zu Gütern, Informationen und/oder Sicherheiten. Die Netzwerke der ausdifferenzierten Welt, die Sozialsysteme, werden in diesem Bereich wieder abgelöst von sozialen, meist nicht zentral gesteuerten Netzwerken. Die funktionalen Systeme hören auf zu existieren, wobei ihre Aufgaben, wie schon erwähnt, von anderen Einrichtungen übernommen werden: Geschieht z. B. in der Gesellschaft mit ausgeprägten Funktionssystemen ein Mord, so wird dies - angenommen es ist von einem weitgehend korruptionsfreien System die Rede- strafrechtlich verfolgt und der Täter wird unabhängig von seiner beruflichen, politischen und sozialen Stellung verurteilt.

In dem sich abgespaltenen segmentär strukturierten Exklusionsbereich der Marginalsiedlungen hingegen, hängen all die genannten Stellungen stark zusammen und haben großen Einfluss auf die Strafverfolgung, die dann in Form von Rache und Vergeltung eines anderen Familien- oder Bandenmitgliedes erfolgt. Wer hier mordet, muss, wenn er über entsprechende soziale und politische Macht verfügt, nicht mit Konsequenzen rechnen. Als vor einigen Jahren in Rio de Janeiro ein Drogenboss, der innerhalb der Siedlung den Spitznamen Robin Hood trug, verhaftet wurde, gingen die Bewohner der Favela auf die Straße und demonstrierten gegen seine Festnahme, da dieser mit dem Geld, das er aus Kokainverkäufen an die Reichen verdient hatte, die gesamte Kanalisation der Favela finanziert hatte. Zudem war seine Macht der Sicherheitsgarant für seine Bandenmitglieder vor anderen Gangs.

Dies hat zur Folge, dass mit den Slums und Favelas eine Art Parallelgesellschaft entsteht, die zwar von außen wahrgenommen wird und mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen in der Welt kommuniziert wird, die aber selber nicht mehr an der ausdifferenzierten Gesellschaft teilnimmt. Die Kluft zwischen funktional differenzierter und segmentärer strukturierter Gesellschaft wird immer größer, eine Verbindung besteht z.B. in Kontakten mit der Polizei, die Kommunikation zwischen den Gesellschaftsteilen reißt ab und wird ersetzt durch spontane Gewaltakte. Geändert hat sich in den letzten Jahren nicht nur die Zahl der zunehmend Armen, auch die Qualität der Armut ist eine andere geworden. Während die Reichen ihren Reichtum mitunter den Verlierern des Fortschritts verdanken und es zwischen den beiden Parteien Kommunikationsebenen gab, in denen um ausgleichende Gerechtigkeit gerungen wurde, so werden die unteren Gesellschaftsschichten heute als Solche akzeptiert oder ignoriert, da sie weder gebraucht werden, noch Hoffnung auf Verbesserung der Zustände besteht.


4.2  Systemstabilität

Wie kommt es aber dazu, dass sich das System des Exklusionsbereiches, wenn es als System bezeichnet werden kann, so stabil ist? Und welche Prozesse stecken hinter dem Exklusionsvorgang?

Eine starke Ausdifferenzierung der  Funktionssysteme in unserer modernen Gesellschaft hat zur Folge, dass Personen nicht mehr vollinkludiert sind, sondern nur noch temporär in das System integriert sind, an dessen funktionssystembezogener Kommunikation sie teilnehmen. Personen werden aus systemtheoretischer Sicht nicht als Ganzes erfasst, sondern setzen sich aus einzelnen partizipierenden Teilen zusammen, die sich bis zu einem gewissen Grad zwar beeinflussen, jedoch nicht bedingen. Hier liegt auch der Unterschied zu stratifizierten und segmentären Gesellschaften, in denen die funktionale Ausdifferenzierung fehlt und der Mensch dementsprechend als Ganzes, nach Hierarchien  geordnet oder gleichrangig in seine Gesellschaft integriert ist. Die Rückkehr in das normale gesellschaftliche Leben gestaltet sich als schwierig, da die (Re-) Integration in eines der Systeme meist die Integration in eines der Teilsysteme fordert. Der Zugang zu Bildung erhöht die Chance auf eine Arbeitsstelle. Ein Job, also eine Teilnahme am Wirtschaftssystem erlaubt die Zugang zum Gesundheitseinrichtungen usw. Die Teilnahme an der ausdifferenzierten Gesellschaft scheint wie ein geschlossener Zirkel zu funktionieren. Steht man außerhalb des geschlossenen Kreises, gibt es kaum eine Möglichkeit ein Bestandteil Desselben zu werden.




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